Unsere Geschichte

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Die folgenden Hinweise zur Geschichte der ‚Kaffeetwete‘ bieten lediglich eine kleine Skizze. Sie repräsentieren die Sicht des Verfassers. Selbstverständlich ließen sich auch andere Sichtweisen in Anspruch nehmen und andere Akzente setzen.

Wie bereits erwähnt, trägt das ‚Projekt Kaffeetwete‘ den Namen jener Straße, in der es 1971 seinen Anfang nahm – als eine der ersten selbständigen Einrichtungen für Drogenabhängige in Deutschland. Das bezogene Gebäude war seit Anfang des letzten Jahrhunderts Sitz einer der ersten Schulen für heilende Erziehung, später Hilfsschulen, dann Sonderschulen genannt. Ein wichtiger Initiator dieser Schulform war Heinrich Kielhorn *. Die Schule war beim Bombenangriff auf Braunschweig erheblich beschädigt worden. Ein Teil konnte saniert, aber nicht mehr für den Unterricht genutzt werden. Hier richteten wir uns ein, wobei wir die relativ großen Klassenräume durch Zwischenwände teilten, um mehr Einzelzimmer zu erhalten.

In den 60 er Jahren hatte die sogenannte ‚Hippie-Bewegung‘ mit ihrer Vision einer friedlichen, gerechten, repressionsfreien Gesellschaft viele Jugendliche in ihren Bann gezogen. Vietnam-Krieg und atomares Wettrüsten wurden als ungeheure Bedrohungen empfunden. Als hätte man aus den Katastrophen der beiden Weltkriege, deren Schatten noch wie ein Alpdruck auf vielen Ländern lagen, Entscheidendes nicht gelernt. Die im Zuge dieser Bewegung ausgelösten Umwälzungsprozesse hielten unvermindert an, als wir mit unserer Arbeit begannen.

Wichtige Impulse zwecks Realisierung jener Vision hatte man sich nicht zuletzt von der Wirkung bestimmter Drogen erhofft, die zu jener Zeit en vogue waren – getragen von einer entsprechenden Literatur, Kunst-, Theater- und Musikkultur. In demonstrativer Abkehr von ‚Wirtschaftswunder‘ und ‚American way of life‘ schossen Kommunen geradezu wie Pilze aus dem Boden, um neue Formen des Zusammenlebens zu erproben – zuerst im kalifornischen Hinterland, wenig später in Europa. Die kommerzielle Ausbeutung dieser Bewegung folgte auf dem Fuß.

Vor dem Hintergrund der seit Rousseau immer wieder aufflackernden Versuche sich zivilisatorischen Zwängen zu entziehen, erinnerte vieles an jene Suche nach dem verlorenen Paradies, die schon die frühe Romantik beflügelt hatte, allerdings auch an deren Schattenseiten. Vieles lief chaotisch. Hörsäle wurden gestürmt, Vorlesungen aufgelöst, Seminare ‚umfunktioniert‘. So auch in Braunschweig. Mit dem Rückgang der anfänglichen Euphorie breiteten sich Unsicherheit und Orientierungslosigkeit aus. Insbesondere der Konsum von Opiaten versprach eine – zumindest subjektiv empfundene – Geborgenheit bzw. Stabilität der Gefühle. Parallel zum steigenden Drogenkonsum trat dessen Kehrseite in Erscheinung. Immer mehr Drogenkonsumenten machten Bekanntschaft mit den Zwängen der Sucht. Und vieles, was in den ‚Kommunen‘ mit verlockenden Parolen wie ‚freie Liebe‘ oder ‚love and peace‘ begann, entpuppte sich als nackter Terror.

Das Wort ‚Drogenwellen‘ ließ Befürchtungen aufkommen, die schon bald von der Realität übertroffenen wurden. Anfangs hatten wir uns in der ‚Kaffeetwete‘ ebenfalls als Kommune bezeichnet – nannten uns ‚Kommune C‘. Der angefügte Buchstabe stand für ‚christlich‘. Denn uns einte der Glaube an die entsprechende Tradition. Zugleich sahen wir uns in Anbetracht jener Umwälzungsprozesse enorm herausgefordert, diese Tradition zu überdenken – ggfs. neu zu gestalten. Bald wurde uns klar, dass die Umsetzung jener Vision auf den genannten Wegen nicht zu erreichen war. Immer mehr Drogenabhängige prägten das Straßenbild. Viele waren der Strafverfolgung ausgesetzt, litten Entzug oder an anderen gravierenden Problemen. Traditionelle Anlaufstellen waren Pfarrämter oder Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände. Betroffene klopften auch an unsere Tür. Soweit Raum war, nahmen wir sie in unsere studentische Wohngemeinschaft auf. Dort wollten wir aus erster Quelle – nach dem Evangelium – leben. Wir hatten eine andere Kehre im Sinn. Sie ging in Richtung dessen, was wir bei Basilea Schlink lasen – einer Braunschweigerin, deren Vater Rektor der Hochschule war.

Ein überraschender – und wie sich später zeigen sollte – ungemein erfreulicher Nebeneffekt war, dass sich schon kurze Zeit später ein Kreis von Unterstützern fand, der sich ständig erweiterte. Zu ihm gehörten Schüler, Studenten, Arbeiter, Pfarrer ** aus fast allen Konfessionen sowie Privat- und Geschäftsleute. Im Keller der Kaffeetwete – Teestube genannt – fanden spontan und völlig ungezwungen Gottesdienste statt. Zumeist in ungewohnter Form – weitab vom ‚mainstream‘ kirchlicher Traditionen. Insbesondere Drogenabhängige, Kriminelle, Prostituierte, Orientierungslose, Verstörte – die Kategorien ließen sich erweitern – fühlten sich von dieser Art Gemeinschaft angezogen. Im Sommer saßen wir auf alten Sofas vor dem Haus, komponierten christliche Balladen, spielten Gitarre dazu. Hier war auch der Ort, wo Hilfsprojekte initiiert wurden, wo das Teilen mitgebrachter Gaben diese oft sogar vermehrte.

Unser gastfreies Haus nahm die Schwellenangst. Zuweilen wussten wir erst morgens, wer sonst noch über Nacht geblieben war. Nach wenigen Monaten hatte eine Art urchristliche Aufbruchsbewegung von sich reden gemacht. Sogar der NDR hatte von ihr gehört, kam zu Besuch und dreht einen Film über uns.

Derartige Bewegungen sind nicht machbar. Sie bleiben Geschenk. Nur als solche können sie bewirken, was sie auszeichnet – heilende Kräfte, Befreiung, wichtige Erkenntnisse und Dienste entfalten. Von besonderer Bedeutung waren ein norwegischer Geschäftsmann, ein messianischer Jude sowie jene Frau, die über viele Jahre hinweg die Position der Hausmutter innehatte. Sie konnte wunderbar kochen, versorgte vorzüglich den Haushalt und die Finanzen. Immer hatte sie – besonders für die Schwierigen – ein offenes Ohr. Die Art ihrer Seelsorge war einzigartig. Der Norweger sagte, ihm sei unsere Eingangstür im Traum erschienen. Er wurde in der Anfangszeit zum wichtigsten Freund und Ratgeber. Während einiger Jahre wohnte der messianische Jude mit seiner Familie in unserer Einrichtung. Sein Weg zu uns war nicht weniger wundersam. Er zeigte nicht nur ein großes Herz für unsere Gäste, sondern verfügte auch über ein kostbares Wissen, insbesondere was Zusammenhänge des alten und neuen Testaments betrifft: Leiden, Opfertod und Auferstehung Jesu Christi als Beginn einer neuen Schöpfung, deren Grund und Gegenwart. Das war seine zentrale Botschaft – paulinische Theologie im besten Sinne. Sie war überzeugend, weil er sie lebte. Hier fanden wir Antwort auf die Suche nach dem verlorenen Paradies.

Institutionelle Therapie für den besagten Personenkreis gab es damals noch nicht. Zunehmend wurden wir mit Phänomen des Entzugs konfrontiert und mussten lernen damit umzugehen. Wir suchten nach Möglichkeiten effektiver Hilfe. Ein pensionierter Sonderschullehrer mit Zusatzausbildung als Psychotherapeut – bezeichnenderweise jemand, der sich mit den Anfängen der Kielhorn-Schule intensiv befasst und darüber geschrieben hatte – bot seine Unterstützung an. Bestärkt von seiner fachlichen Kompetenz stellten wir bei den zuständigen Behörden den Antrag auf Anerkennung als therapeutische Wohngemeinschaft für Drogenabhängige. Nachdem wir entsprechende Bedingungen erfüllt hatten, wurde er schließlich genehmigt. Das Gesundheitsamt gab ebenfalls grünes Licht. Die Anerkennung war nicht zuletzt deshalb wichtig, weil wir dringend finanzielle Unterstützung brauchten. Schon einige Male waren wir mit Mietzahlungen in Verzug geraten oder wussten nicht, ob uns am nächsten Tag das Essen reichen würde. Ein weiterer wichtiger Schritt war die Anerkennung der Einrichtung als Einsatzstelle für Zivildienstleistende.

Im Rückblick betrachtet erinnern manche Phasen der Anfangszeit an Szenen auf einem Narrenschiff. Die Anzahl ‚bunter Vögel‘ auf Deck nahm ständig zu. Es wurde viel experimentiert und improvisiert. Staatliche Aufsichtspflichten hielten sich in Grenzen.

Dabei wurde zugleich deutlich, dass ‚Drogenprophylaxe‘ mindestens ebenso wichtig ist wie Therapie. Um dieser Einsicht Rechnung zu tragen, mieteten wir schon wenige Jahre später in der Nachbarschaft Räume eines ehemaligen Geschäfts an und riefen dort eine offene Jugendarbeit ins Leben. In den hinteren Räumen richteten wir eine Offset-Druckerei ein. Siebdruck und Fotolabor kamen hinzu. Ein ausgebildeter Drucker übernahm die Leitung. Arbeitsmöglichkeiten für unsere Gäste eröffneten sich nicht nur hier, sondern auch bei Geschäftsleuten bzw. Handwerkern, die mittlerweile zum Freundeskreis gehörten. Ermutigt von dem, was sie in der ‚Kaffeetwete‘ erlebt hatten, gründeten sie eine eigene, überkonfessionelle Vereinigung christlicher Geschäftsleute. Ihr Engagement dehnte sich in den folgenden Jahren über ganz Deutschland aus. Wir konnten nur staunen.

Ein Wehen des Heiligen Geistes hatte uns erfasst. Ihm wollten wir Raum geben, die empfangenen Impulse weitertragen. Einige gründeten eine Theatergruppe, andere eine Gruppe für Ausdruckstanz, eine Jazzformation, organisierten Auftritte auf öffentlichen Bühnen und Marktplätzen. Wiederum andere traten als Sologitarristen mit selbst komponierten Liedern auf. Sogar kleine Theaterfestivals mit befreundeten Gruppen fanden statt. Studenten der Hochschule für Bildende Kunst arrangierten Ausstellungen im Horizont christlicher Fragestellungen. Literarische Lesungen, Vorträge und Filmvorführungen zogen Interessierte an. Andere zogen mit einem Zirkuszelt übers Land. Selbstverständlich brachten sich auch die Therapiegäste mit ihren Begabungen ein. Auf diese Weise gingen viele, die von ihrer Drogenabhängigkeit frei geworden waren, auf die ‚Szene‘, um Leidensgenossen für eine Therapie zu erwärmen. Einige wurden später Mitarbeiter. Mancher Pädagoge, Psychologe, Therapeut, Arzt oder Pastor war zunächst bei der ‚Kaffeetwete‘ in die Schule gegangen, beispielsweise als Zivildienstleistender.

Der Aufschwung brachte allerdings auch Gefahren mit sich. Die für eine Therapie nötige Ruhe und Abgeschiedenheit drohte verlorenzugehen. Hinzu kam das Wohnen inmitten einer Großstadt, in der trotz mancher Initiativen immer mehr Drogen kursierten. Mitte der 80 er Jahre zeigte sich ein Ausweg. Wir konnten in der Nähe von Königslutter – in Glentorf – ein Bauernhaus mit Nebengebäuden und ausreichend Land erwerben. Hier war die Versuchung an Drogen zu kommen weniger groß. Ein wichtiger Baustein der Therapie war die Renovierung der Gebäude. Befreundete Handwerker oder Mitarbeiter mit handwerklicher Ausbildung gaben Anleitung. Die Arbeit in Wald und Garten war nicht nur ein wichtiger Beitrag zur Selbstversorgung, sondern diente auch therapeutischen Zwecken. Ausgleich boten Sport, Wander-, Rad- und Kanutouren ebenso wie kulturelle Veranstaltungen und Fahrten nach Schweden.

Zeitweise unterhielten wir neben dem Hühnerstall eine kleine Schafherde, verarbeiteten die Wolle, bauten den Webstuhl selbst. Die Töpferei bot Gelegenheit sich in der Gestaltung von Keramik zu erproben. Manche setzten ihre kreativen Ideen in der Holzwerkstatt um oder bastelten an alten Autos. Die Anwesenheit von Hund und Katze hatte etwas Behagliches. Während einiger Jahre nahmen wir auch drogenabhängige Paare mit Kindern auf, gründeten einen kleinen Kindergarten und sorgten für entsprechend qualifiziertes Personal. Parallel zu dieser Entwicklung stiegen allerdings auch die Qualitätsanforderungen der Leistungsträger, insbesondere was die baulichen Voraussetzungen betrifft. Als wir diese nicht mehr erfüllen konnten, musste der Bauernhof in Glentorf als Therapieeinrichtung aufgegeben werden. Das ist uns nicht leicht gefallen. Er dient seither als Nachsorgeeinrichtung und Vorbereitungsphase für Therapiebewerber.

Mit viel Mut zum Risiko – weitere Kredite mussten aufgenommen werden – erwarben wir ein großes, bebautes Grundstück in der Ortschaft Lehre, das uns für die Fortsetzung der Therapie unter den neuen Bedingungen geeignet erschien. Nicht nur umfangreiche Sanierungen, sondern auch Neubauten waren zu bewältigen. Die meisten Leistungen wurden in Eigenarbeit erbracht. Spenden halfen das Material zu finanzieren. Trotzdem sahen wir uns ungeheuren Schwierigkeiten ausgesetzt. Die gesamten Maßnahmen dauerten mehrere Jahre. Unnötig weiter auszuführen, dass sie von erheblichen Krisen begleitet waren. Ein weiteres Haus – außerhalb des Grundstücks – wurde hinzu gekauft. Es dient der Adaption. Dass schließlich das ganze Vorhaben gelang, betrachten wir als Wunder. Ohne die äußerst verständnisvolle Begleitung von Seiten der Leistungsträger wären die Ziele nicht erreicht worden. Inmitten von Grünflächen, Teichen und hohen Baumgruppen fügen sich die Wohn-, Wirtschafts- und Arbeitsräume zu einem ansprechenden Ensemble. Es korrespondiert sowohl baulich als auch fachlich gesehen hervorragend mit der Drogenberatung in Wolfsburg, der Adaptionseinrichtung sowie mit den unterschiedlichen Wohngruppen der Nachsorge.

Im Laufe seiner Entwicklung hat sich das ‚Projekt Kaffeetwete‘ sowohl räumlich als auch konzeptionell beträchtlich erweitert, differenziert und regional verzweigt, nicht zuletzt zahlreiche Wandlungen durchgemacht. Es ist Mitglied im Diakonischen Werk der Evangelischen Landeskirche Braunschweig.

All diese Erfahrungen haben die ‚Kaffeetwete‘ geprägt und bereichert, ihr einen ganz eigenen Charme verliehen. Die erste Besatzung geht gerade von Bord. Das betrifft vor allem den ersten Kapitän Lothar Berg mit seiner Ehefrau Jutta, die viele Jahre an seiner Seite als Therapeutin gearbeitet hat. 43 Jahre lang hat er das Schiff durch so manche Klippen und Stürme gesteuert. Sein Lebenszeugnis ist überaus bewegend (s. im Weiteren das Fernseh-Interview bei TV 38). Wunderbare, sehr erfahrene Mitarbeiter, haben inzwischen das Ruder übernommen und Segel gesetzt – bereit zu neuen Ufern aufzubrechen.

 

(Die Skizze schrieb Gerhard Holst – Mitglied der Gründergeneration)

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*S. Heinrich Kielhorn und der Weg der Sonderschulen. 100 Jahre Hilfsschulen in Braunschweig. In: Braunschweiger Werkstücke, Waisenhaus-Verlag, Braunschweig 1982, S. 42ff.

** Zugunsten einfacherer Lesbarkeit wird auf die weibliche Form von Personen und    Berufsbezeichnungen verzichtet